Im EU-Projekt CPSoS - Towards a European Roadmap on Research and Innovation in Engineering and Management of Cyber-Physical Systems of Systems (www.cpsos.eu) wurde umfassend der heutige Stand der Technik der Entwicklung und des Managements von Cyber-Physical Systems of Systems (CPSoS) in den Bereichen Transport und Logistik, Energieversorgung, Produktionsanlagen und Smart Buildings analysiert und auf dieser Basis eine Forschungsagenda für die Zukunft entwickelt. Wir haben mit dem Projektkoordinator Prof. Dr. Sebastian Engell, TU Dortmund, über FuE-Herausforderungen im Bereich CPSoS gesprochen.
Herr Professor Engell, Sie forschen zu CPSoS und haben einen Hintergrund im Bereich der Prozessoptimierung, Produktionssteuerung und Regelungstechnik, vor allem im Kontext der Prozessindustrie. Wie hängen diese beiden Gebiete zusammen?
Cyber-Physical Systems (CPS), zu denen auch Produktionsanlagen gehören, bestehen aus physikalischen Elementen und haben einen über die Jahre kontinuierlich gewachsenen IT- und kybernetischen, “cyber“-Anteil. Das Automatisierungssystem einer Chemieanlage besteht aus Tausenden von Sensoren und zahlreichen Regelungs-, Visualisierungs- und Optimierungsmodulen. Unter Nutzung von Internettechnologien wurde der Zugriff auf die Datenquellen und die in den Systemen gespeicherten Daten viel flexibler, die Anzahl der Datenquellen ist gestiegen, und die verfügbare Rechenleistung wächst weiter. Damit ergeben sich ganz neue Möglichkeiten zur Überwachung und Optimierung solcher großen Systeme und zur Unterstützung der Anlagenfahrer.
Bei der CPSoS-Forschung werden u.a. folgende Fragen adressiert: Wie kann die sprunghaft wachsende Datenmenge analysiert werden? Wie können die Daten zur Überwachung und Optimierung genutzt werden? Wie werden Anlagenfahrer oder Betriebsleiter bei ihren Entscheidungen unterstützt?
Bei CPSoS haben wir es mit Systemen zu tun, die aus vielen gekoppelten Systemen bestehen, die jeweils eine gewisse Autonomie haben, aber sich gegenseitig beeinflussen. Im Bereich der Prozessoptimierung beschäftigen wir uns zum Beispiel mit Produktionskomplexen mit unterschiedlichen Betrieben, die durch den Austausch von Energie und Material gekoppelt sind, aber nicht zentralistisch optimiert werden können. Wie dies mit begrenztem Informationsaustausch und „Durchgriff“ möglich ist, ist eines der übergreifenden Themen der Forschung im Bereich CPSoS.
CPSoS sind – grob gesagt – dynamisch kooperierende CPS. Wo sehen Sie die größten Chancen für den Einsatz von CPSoS im Verkehrswesen? Wo sind die Grenzen?
Ein Beispiel für CPSoS sind Eisenbahnsysteme. Sie haben schwankende Benutzeranforderungen und bestehen aus autonomen Einheiten, die stark interagieren, sodass kleine Störungen zu großen Folgen führen können, die sich im Gesamtsystem ausbreiten. Solche Systeme bieten enormes Optimierungspotenzial, wie die einzelnen Einheiten koordiniert werden können, sodass die Kundenzufriedenheit und Energieeffizienz optimiert, gute Arbeitsbedingungen geschaffen und die Leistungen zu niedrigen Preisen angeboten werden können. Man hat es typischerweise mit vielfachen und konkurrierenden Anforderungen zu tun. Ähnliches gilt für Anwendungen im Air Traffic Management, Hafenmanagement sowie im Straßenverkehr.
Die derzeitigen Grenzen spiegeln sich in den aktuellen Forschungsfragen: Was sind die Mechanismen, um solche Systeme in Echtzeit zu steuern und zu koordinieren? Welche Rolle spielen die Menschen, die für die einzelnen Systeme verantwortlich sind? Wie können die Systeme verlässlich so entworfen werden, dass Sicherheitsanforderungen erfüllt und die Systemleistung auch bei Störungen aufrechterhalten werden kann.
Menschen werden in großen, komplexen Systemen noch lange Zeit als Überwacher und Entscheider gebraucht, denn die Vielzahl der realen Situationen ist so groß, dass nicht alles vorhersehbar und programmierbar sein wird. Es wird noch für sehr lange Zeit Personen geben, die das System beobachten, Entscheidungen treffen und diese verantworten müssen. In der Roadmap "Research for CPSoS", die im Projekt CPSoS erstellt wurde, haben wir u.a. den Bereich der Informationsaufbereitung für den Menschen unter der Überschrift „Towards cognitive CPSoS” adressiert.
Darüber hinaus bestehen Herausforderungen nicht nur auf der technischen Ebene, sondern auch in anderen Bereichen, die z.B. Haftungsfragen oder das Kartellrecht und die Nutzung von Daten, die die Systemnutzer „nebenbei“ liefern, betreffen.
Das europäische Projekt CPSoS hat seine Arbeit abgeschlossen. Basierend auf einer State-of-the-Art-Analyse von Methoden und Tools für CPSoS wurden im Projekt neun mittelfristige Forschungsprioritäten identifiziert, u.a. der „Model-based systems engineering-Ansatz“. Wie sehen Sie das modelbasierte Vorgehen derzeit im industriellen Kontext verankert?
Die Situation ist sehr heterogen. Es gibt hervorragende Beispiele, wo Firmen domainspezifische Modellierungen und Werkzeugketten etabliert haben, vor allem in Bereichen mit sehr hohen Anforderungen an die Leistung und die Verlässlichkeit der Systeme. Bei kleineren Unternehmen wird häufig noch ziemlich „handwerklich“ vorgegangen. Das große Problem, welches wir auch bei den FuE-Prioritäten im Projekt CPSoS adressiert haben, ist der sogenannte Modelling Bottleneck. Bei der modellbasierten Entwicklung gibt es einen erheblichen Startaufwand, da die Modelle erst einmal entwickelt werden müssen. Bei einem komplexen System gibt es viele Elemente, bei denen sich eine tiefe Modellierung gar nicht lohnt, und es gibt hoch kritische Elemente, die sehr genau abgebildet werden müssen, damit Entwurfsfehler früh erkannt und ausgeschlossen werden können. Es müssen daher Modelle mit verschiedenen Genauigkeitsgraden und Systembeschreibungen kombiniert und daraus Aussagen über das Verhalten des Gesamtsystems abgeleitet werden. Ich sehe im Moment als eine wesentliche Herausforderung die modellbasierte Entwicklung mit heterogenen, partiellen und gekoppelten Modellen zu betreiben.
In der Forschung ist Deutschland stark in der Informatik und Automatisierungstechnik. In welchen thematischen Bereichen sollte man national stärker Ressourcen bündeln?
Aus wissenschaftlicher Sicht sollten Fragen rund um die Steuerung von und die Strukturbildung in großen Systemen verstärkt adressiert werden. Auch im Zusammenhang mit Industrie 4.0 spielt die Thematik der Adaption und Autonomie eine große Rolle. Bisher kennen wir Systeme mit Sensoren und Informationsverarbeitung, die auf unterschiedliche Werte der Messsignale in klar vorhersehbarer Weise reagieren. Neu ist, dass mehrere solcher Systeme interagieren und sich beeinflussen, und dass die Auswertealgorithmen so komplex werden, dass nicht mehr alle Reaktionen betrachtet werden können. Diese Systeme zu verstehen, zu entwerfen, sodass Fehlverhalten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, und im Betrieb zu beherrschen, sind große Herausforderungen, die in naher Zukunft u.a. im Bereich der elektrischen Netze akut sind. Ähnliches trifft auch auf Verkehrssysteme zu.
Ein zweites großes Thema ist die Interaktion des Menschen mit solchen Systemen. Je größer das System, umso schwieriger ist es alles vorherzudenken und umso wichtiger ist der Mensch mit seinen komplexen Fähigkeiten. Wie man die Rollen zwischen Menschen und Computersystemen am besten verteilt und welche Unterstützung menschliche Entscheider in komplexen Situationen bekommen sollten, ist ein offenes und spannendes Forschungsfeld.
Vielen Dank für das Gespräch!
Sebastian Engell

Sebastian Engell ist seit 1990 Professor für Systemdynamik und Prozessführung in der Fakultät Bio- und Chemieingenieurwesen der TU Dortmund. Seinen Abschluss in Elektrotechnik machte er 1978 an der Ruhr-Universität Bochum, die Promotion in Regelungs- und Informationstheorie und die Habilitation folgten 1981 und 1987 an der Universität Duisburg. 1986-1990 war er Gruppenleiter am Fraunhofer-Institut IITB (heute IOSB) in Karlsruhe, 2002-2006 Prorektor für Forschung der Universität Dortmund.
Sebastian Engell erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 2005 den Titel des IFAC Fellow, der von der International Federation of Automatic Control, der weltweiten Dachorganisation für Regelungs- und Automatisierungstechnik, vergeben wird. 2005-2011 war er Mitglied der Auswahlkommission für den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem bestdotierten deutschen Forschungspreis. 2012 erhielt er einen ERC Advanced Research Grant für das Projekt MOBOCON – Model-based optimizing control – from a vision to industrial reality. Er war und ist an zahlreichen EU-Projekten beteiligt, sowohl im Bereich ICT als auch im Bereich der Produktionstechnologien.